Kambodscha: Im Land der starken Frauen
Die Tempel von Angkor sind der Besuchermagnet des kleinen Königreiches Kambodscha. Die Khmer haben hier inmitten urwüchsiger Natur und ursprünglichen Dörfern eine Hochkultur geschaffen, wie sie in Südostasien ihresgleichen sucht.
Von Uwe Junker
In Angkor schlägt noch heute das Herz der Khmer. Die Tempelstadt am Rande des Dschungels ist für die Menschen in Kambodscha Symbol der Hoffnung und wichtiger Orientierungspunkt auf der Suche nationaler Identität - nach vielen Jahren, in denen Kambodscha blutiges Experimentierfeld mörderischer Weltideologien war. Nicht nur Könige, auch starke und charismatische Frauen prägten einst wesentlich die Mythologie der Khmer. Heute tragen ihre Schultern die Gesellschaft Kambodschas, das durch die Gewaltherrschaft des Pol Pot-Regimes den größten Teil seiner männlichen Bevölkerung verloren hat.
Leichter Wind zieht den Morgendunst wie einen Vorhang auf. Einige Affen hangeln kreischend durch die Bäume, andere sitzen wie Wächter auf den äußeren Mauern dieses größten sakralen Bauwerks der Welt: Angkor Wat. Dahinter befinden sich riesige Teiche mit Dutzenden violett schimmernder Lotusblüten, die sich anmutig im Wasser spiegeln. Chantea Horne treibt ihre kleine Gruppe voran, möchte mit ihr vor dem täglich hereinflutenden Touristenstrom im Zentrum des Tempels sein. Schon sind die wuchtigen und doch filigran ausgearbeiteten Türme im noch schwachen Morgenlicht wie ein Schattenriss zu sehen, elegant und Ehrfurcht gebietend zugleich. König Suryarman II., Haus- und Bauherr von Angkor Wat, wollte hier eine Nachbildung des Zentrums der Welt erschaffen, dem mystischen Berg Meru.
Die fünf hoch aufragenden Türme kommen näher, der Weg führt an den Bibliotheken vorbei hinauf zur Ehrenterrasse mit ihrer Buddha-Statue. Hier, im zweiten Stock des zentralen Baus, gönnt Chantea ihren Gästen eine erste Atempause. Doch die sind schon bald wieder atemlos beim Anblick von weit über tausend barbusigen Apsara-Tänzerinnen, jede von ihnen ein sorgfältig aus dem Sandstein herausgearbeitetes Unikat. Vor Jahrhunderten seien diese anmutigen Nymphen einem Meer aus Milch entstiegen auf ihrer Suche nach Unsterblichkeit. Ihre Nachfahren hätten dann am Königshof getanzt, nicht wenige seien auch Konkubinen des Königs geworden, erzählt Chantea. "Dieser Tempeltanz ist die immerwährende Seele Kambodschas, erzählt von der Entstehung und Schönheit der Welt, von Freud und Leid - aber auch von Stärke und Charisma unserer Frauen", berichtet die Fremdenführerin.
"Auf deren Schultern ruht viel Verantwortung, da der Terror des Pol Pot-Regimes einen großen Teil unserer männlichen Bevölkerung hingerichtet hat. Deshalb bin ich sehr stolz darauf, dass die Unesco den Apsara-Tanz in den Rang eines Weltkulturerbes erhoben hat." Chantea weiß, wovon sie spricht: Ihr Vater, ein Lehrer, wurde von den Schergen des intellektuellen-feindlichen Diktators hingerichtet. Damals war sie 15 Monate alt.
Auf dem Weg zum Hauptturm eine weitere Galerie. Auf 800 Metern Länge werden hier zentrale Aspekte des hinduistischen Glaubens ebenso dargestellt wie die Kriege der Angkor-Zeit. In besonders krassem Gegensatz zur Anmut der Apsara-Tänzerinnen steht die Darstellung der Strafen, die der achtzehnarmige Weltenrichter Yama Sündern angedeihen lässt: Sie werden bei lebendigem Leib zerhackt oder mit Nägeln gepeinigt - Vorbilder oder Prophezeiungen für die viel späteren Gräueltaten der Roten Khmer? Erfreulicherweise bleibt an diesem Morgen nicht viel Zeit für trübe Gedanken. Denn im Zentrum des Tempels hat eine Gruppe prächtig gewandeter Apsara-Tänzerinnen begonnen zu tanzen. Besucherinnen werden eingeladen mitzutanzen, versuchen - meist vergebens - die Bewegungsabläufe zu imitieren, sind aber schließlich stolz, sich auf einem Foto inmitten dieser Schönheiten wiederzufinden.
Von weitem wirkt der buddhistische Tempel Bayon eher wie eine Festung. Dort angekommen offenbart sich aber wiederum die hohe Kunst der Khmer-Architektur: kunstvoll gestaltete, verwinkelte Erker und 200 riesige, geheimnisvoll lächelnde steinerne Gesichter, die einen auf Schritt und Tritt zu beobachten scheinen. Sie stellen Lokeshvara dar, der Gläubigen auf ihrem Weg ins Nirwana hilft.
In Ta Prohm, "dem Überwucherten", hat die Natur das Genie der Khmer-Architektur zugleich gefesselt und bewahrt. Die mächtigen Wurzeln der Urwaldriesen haben sich überall ins Mauerwerk geschoben, es mancherorts auseinander gedrückt, höhere Bauwerke durch ihre Umklammerung aber auch vor dem Einsturz gerettet. Ein faszinierender Ort, der nachdrücklich offenbart, dass alles Menschengemachte vergänglich ist. Auch bei Angelina Jolie alias Lara Croft hat dieser magische Ort augenscheinlich lebenslange Spuren hinterlassen: Nachdem sie Teile des Actionfilms "Tomb Raider" hier gedreht hatte, kehrte sie immer wieder nach Kambodscha zurück, adoptierte ein kambodschanisches Kind und wurde Botschafterin des UN-Kinderhilfswerks.
"Wir müssen aufbrechen", mahnt Chantea, "Frau Binh wartet bestimmt schon mit dem Mittagessen". Ja, das tut sie, und zwar mit einem viergängigen kambodschanischen Menu: Hühnersuppe, Fischcurry, Rindfleisch, Gemüse und Klebereiskuchen zum Dessert. Gegessen wird im ersten Stock des Pfahlhauses, den ein einziger großer Raum einnimmt, an dessen Kopfende sich die Küche befindet. An einer Seite ist eine hölzerne Kammer abgetrennt. Darin schlafen die Frauen, die älter als fünfzehn Jahre sind, Frau Binh und zwei ihrer Schwestern. Für den gesamten Rest der Familie - ihre Eltern, vier Brüder und zwei jüngere Schwestern -, wird der Raum nachts zum gemeinsamen Schlafzimmer. Vor dem Haus steht eine Reismühle, ein jüngerer Bruder reinigt gerade liebevoll sein Moped am hauseigenen Brunnen, alle anderen Familienmitglieder arbeiten auf den Reisfeldern.
Frau Binh ist mit ihren 23 Jahren auch schon eine der starken Frauen, die Verantwortung übernehmen in diesem noch immer von Armut und Kriegsfolgen geprägten Land. Nein, eine weiterführende Schule habe sie nicht besucht, sondern schon früh im landwirtschaftlichen Familienbetrieb helfen müssen. Aber nebenher habe sie fleißig Englisch gelernt und so zusammen mit ihren Kochkünsten der Familie eine neue Einnahmequelle erschlossen.
Und Chantea, die mit Hilfe eines Rotary-Stipendiums in Bern und Frankfurt perfekt Deutsch gelernt hat, zieht es sie nicht nach Europa? "Ich habe viele nette und hilfreiche Kontakte dahin, die ich auch durch Besuche alle paar Jahre pflege, aber ich gehöre hierher nach Kambodscha, hier werde ich gebraucht, es bleibt noch so Vieles zu tun."
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